Wie komme ich in den Flow? Tipps für besseren Schreibfluss und Hintergrundwissen zum Schreibprozess
- Dr. Miriam Pahl
- Aug 6, 2024
- 5 min read
Updated: Aug 15, 2024
Es gibt Tage, da schreibe ich wie ein Wasserfall, Satz für Satz, Absatz für Absatz, ich vergesse die Zeit - ein Text entsteht. Und es gibt Tage, da ist die Quelle einfach versiegt. Die Suche nach den richtigen Worten ist mühsam, ich komme kaum voran, es passiert… Nicht viel. Ich wünschte, ich könnte einfach immer gut in den Schreibflow kommen. Wenn ich im Flow bin, geht mir das Schreiben ganz leicht von der Hand, die Worte fließen aus mir heraus, es fühlt sich spielend leicht an. Während die Zeit sich an anderen Tagen wie Kaugummi zieht, vergisst man in diesem Status auf die Uhr zu sehen. Auch wenn nicht möglich ist, sich in diesen Modus zu zaubern, ein gewisses Grundwissen über den Entstehungsprozess von Texten und über gute Schreibstrategien hilft mir, an schlechten Tagen das richtige zu tun um nicht total frustriert das Handtuch zu werfen.

Ich stelle dir hier ein hilfreiches Modell zum Schreibprozess vor und gebe danach Tipps für besseren Schreibfluss, damit dir das wissenschaftliche Schreiben für deine Abschlussarbeit leichter von der Hand geht und du deine Schreibzeiten effektiv nutzen kannst.
Erst schreiben, dann verfeinern: Die Entstehung von (wissenschaftlichen) Texten und der Schreibprozess
Ernest Hemingway, ein erfolgreicher Autor und Literaturnobelpreisträger, wird oft mit diesem Satz zitiert:
The first draft of anything is shit.
Dieser einprägsame Satz verdeutlicht, dass ein guter Text durch Überarbeitungen entsteht. Dies gilt für wissenschaftliches genauso wie kreatives Schreiben: Der erste Entwurf ist niemals perfekt, und auch nur selten wirklich gut. Wenn wir das verstanden haben, können wir viel gelöster losschreiben, denn der erste Rohtext muss eh überarbeitet werden. Je schneller wir zum zweiten, dritten oder siebten Entwurf kommen, desto besser.
Betty S. Flowers Schreibprozessmodell: Madman, Architect, Carpenter and Judge
Zu allen Modellen zum Schreibprozess ist zu sagen: Sie sind nur Modelle. Den einen Schreibprozess gibt es nicht, denn wir alle entwickeln unsere individuellen Methoden und Techniken, um zu einem Ergebnis, einem Text zu kommen. Modelle können aber hilfreich sein um realistische Erwartungen an das Schreiben abzuleiten.
Im Schreibprozess sollten wir mindestens zwischen der Schreibphase und der Überarbeitungsphase unterscheiden; viele Schreibtheorien nennen noch weitere Phasen. Ich finde Betty Flowers‘ Theorie sehr hilfreich, und möchte sie deswegen hier vorstellen. Betty Flowers definiert vier Schreibphasen und ordnet ihnen unterschiedliche Rollen zu, die die Autorin jeweils einnehmen sollte.
1. Let the madman energy flow
Die Schreibphase des „Madman“ – ich übersetze das hier sehr frei zu „Künstler*in“ - ist die kreative Phase, in der erstmal alles zu Papier kommt. Hier wird drauflos geschrieben, in der Sprache und im Ausdruck ist alles erlaubt, man schreibt mit Begeisterung oder sich in Rage. Wenn man den Gedanken freien Lauf lässt, bringt man schnell viel Text zu Papier.
2. Pick out maybe a tenth of the jottings
In der nächsten Phase kommt die Architekt*in zum Zug. Die Architekt*in schaut sich das grobe Gerüst des Textes an, verschiebt und ergänzt Teile oder nimmt sie raus. Der erste Entwurf aus der Künstler*innen-Phase wird womöglich auch zu großen Teilen verworfen – die Architekt*in hat da keine Skrupel. In dieser Phase geht es um die Struktur und den roten Faden, das Voranschreiten der Argumentation, die Gliederung auf der Makroebene.
3. The sentence structure is left for the 'carpenter'
Wenn die Architekt*in ihre Arbeit getan hat, kommt der Zimmermann und geht in die Absatz- und Satzebene, um dort für Ordnung zu sorgen. Absätze müssen thematisch abgerundet werden, Schachtel- und Bandwurmsätze aufgelöst, Übergänge von Absätzen formuliert werden, so dass die Leserin gut folgen kann.
4. Save the details for the judge
Und erst zuletzt darf der Richter die Feinarbeit machen. Stil, Grammatik, Interpunktion sind seine Aufgabe. Erst an dieser Stelle müssen wissenschaftliche Formulierungen ergänzt und der Ausdruck generell verbessert werden, sodass der Text akademischen Konventionen entspricht.
Was lernen wir von diesem Modell? Es zeigt, dass wir uns beim Schreiben erstmal kreativ ausleben dürfen, bevor wir mit dem Überarbeiten beginnen. Wenn der Richter auf meiner Schulter sitzt, während ich in der Rolle der Künstler*in noch im Erschaffen bin, geht viel Energie im Widerstreit der beiden Rollen verloren. Der Richter soll auf seinen Einsatz warten und erst die anderen ihren Job machen lassen. Nur wenn die Künstler*in sich ausleben kann, kommen die kreativen Energien überhaupt erst zum Vorschein und die Ideen zu Papier.
Ich finde diese Theorie veranschaulicht sehr gut die unterschiedlichen Etappen und die damit verbundenen wichtigsten Aufgaben während des Schreibens. Das Modell ist natürlich nicht vollständig auf die Wirklichkeit übertragbar, und die Schreibphasen sind nicht so scharf voneinander zu trennen – aber es kann hilfreich sein, sich in Erinnerung zu rufen wo man grad steht in der Textentstehung, und auf welche Aufgabe man sich jetzt gerade konzentrieren sollte.
Von der Theorie in die Praxis: Gründe für Schreibschwierigkeiten
In der Praxis können dir unterschiedliche Probleme eine Sperre vor den Schreibfluss schieben. Stockendes und sehr langsames Schreiben kann mehrere Gründe haben - und woran es bei dir liegt, solltest du zuerst ergründen.
Zum Beispiel:
Zu wenig Wissen: Wenn du nicht genug zu deinem Thema weißt, über das du schreiben möchtest, dann fällt es auch schwer voranzukommen. Hier hilft nur mehr lesen. Such dir weitere Literatur, um deinen Text zu entwickeln. Suche nach Büchern, Artikeln, Studien und anderen Quellen, die dir umfassende Informationen zu deinem Thema liefern. Nutze Bibliotheken, Online-Datenbanken und wissenschaftliche Journale. Achte darauf, dass die Quellen, die du verwendest, seriös und aktuell sind.
Zu viel Wissen I: Wenn in deinem Kopf großes Chaos herrscht, kann es sein, dass dein Arbeitsspeicher überlastet ist. Dieser ist beim Schreiben maßgeblich beteiligt und kann nicht die Informationen aus all deiner Literatur gleichzeitig halten. Es hilft dann, einen Schritt vorher anzusetzen und mit "Hilfstexten" zu arbeiten. Wenn Du zum Beispiel Exzerpte zu deinen wichtigsten Texten schreibst, werden dir die einzelnen Argumente und Positionen klarer. Die Exzerpte kannst Du dann beim Schreiben heranziehen und so deinen Arbeitsspeicher entlasten.
Zu viel Wissen II: In deinem Kopf purzeln die Fakten und Argumente durcheinander, und du hast keinen klaren Plan, was wann kommen soll. Wenn du vor lauter Wissen keinen Anfang findest, ist eine klare Struktur das A und O. Diese kannst du dir erschreiben, zum Beispiel mit einem Cluster oder einer Mindmap, im freien Schreiben, als Gliederung. Mache dir einen Plan oder ein Konzept, in dem du die wichtigsten Punkte und Argumente in einer logischen Reihenfolge anordnest. Das hilft dir, den Überblick zu behalten und systematisch vorzugehen.
Perfektionismus: Während du schreibst, sagt eine Stimme über deiner Schulter: „Nah, so kannst du das aber nicht schreiben…“. Hier sind wir wieder bei dem oben beschriebenen Modell. Der Richter mischt sich ein, bevor er an der Reihe ist. Hier muss eine klare Gewaltenteilung her. Versuche, den inneren Kritiker für den Moment zum Schweigen zu bringen. Erlaube dir, deinen ersten Entwurf zu schreiben, ohne ihn sofort zu bewerten. Du kannst später immer noch überarbeiten und feilen. Denk daran: Ein guter Text entsteht durch Überarbeitung und nicht beim ersten Versuch.
Die stärkste Bremse beim Schreiben ist dein eigener Perfektionismus. Oder vielleicht nicht ganz Perfektionismus, sondern eher die Erwartung an dich selbst, dass dein Text im ersten Wurf eloquent klingen soll. Dass jedes Wort und jeder Satz genau das trifft, was du sagen möchtest. Dass Du hoffst, nach dem Schreiben nur einmal auf Rechtschreibfehler prüfen zu müssen, und dass du dann durch bist mit der Arbeit.
Ich möchte dich ermutigen, diese Anforderung an dich selbst fallenzulassen. Freunde dich lieber mit dem Gedanken an, dass deine ersten Entwürfe grobe Rohtexte sind, mit denen noch viel passiert. Trau dich, diese Entwürfe auseinanderzunehmen und neu zusammenzusetzen; schiebe, ergänze und lösche Teile, die nicht passen. Dieses Umdenken beinhaltet auch, dass du mit dem Schreiben besser früher als später anfängst, da du noch Zeit zum (mehrfachen) Überarbeiten brauchen wirst. Und es verdeutlicht umso mehr, dass du noch nicht alles wissen musst; dass du noch keinen perfekten Plan für deinen Text haben muss, bevor du zu schreiben anfängst.
In diesem Post gebe ich Dir weitere Schreibstrategien an die Hand, um gut in den Fluss zu kommen. Melde Dich auch gerne bei mir, wenn du bei deiner Abschlussarbeit feststeckst, und wir schauen gemeinsam woran es liegt.
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